LAURE MARVILLE
neue Publikation im Rahmen des Shizuko Yoshikawa Förderpreises 2018:
Laure Marville ist Preisträgerin des Shizuko Yoshikawa Awards 2018, zu dem auch eine Publikation gehört.
Herausgeberin: Shizuko Yoshikawa und Josef Müller-Brockmann Stiftung
Autorin: Dominique von Burg
Herstellung: Ast & Fischer AG, Wabern/BE
Englisch / Deutsch; 28 Seiten; Preis: CHF 10
Zu bestellen unter: sonja@lars-muller.ch
Vor kurzem ist Laure Marville aus Moskau zurückgekehrt, wo sie für drei Monate Stipendiatin einer Künstlerresidenz der Pro Helvetia war und voller Elan in den Räumen des Fabrika Project an der Perevedenovskiy Pereulok Moskau noch eine Ausstellung ausgerichtet hat. Mittlerweile wurde sie mit dem Shizuko Yoshikawa Förderpreis für Junge Künstlerinnen ausgezeichnet. Zu Recht wurde ihr hohes Materialbewusstsein und ihre frisch wirkende Kunst gewürdigt. Sie arbeitet mit grossem Engagement, sehr reflektiert und mit neugierigem, offenem Geist. Es ist verständlich, dass die Eindrücke aus der Moskauer Zeit noch nachwirken. Laure schnitt und ritzte mehr oder weniger ausführliche Texte und Zitate, die sie an Hausmauern in Moskau vorfand, auf Linoleumplatten ein. Ihre Arbeit mit Texten, Sprichwörtern, Gleichnissen hat seit ihrer Moskauer Zeit an Format gewonnen, und ihre Sprache ist härter und intensiver geworden. Die Linoleumplatten dienen ihr als Instrument; sei es, dass sie diese in andere Arbeiten integriert, sei es, dass sie verschiedene Platten übereinander lagert.
Die Text-, Textil- und Linoleumschichten sind so miteinander verwoben, dass sie einen rhizomartigen Raum bilden. Auch russische Textilmanufakturen inspirierten Laure Marville ausgesprochen, so die Pavlovsky-Posad-Schal-Manufaktur, die Ivanovo-Textilfabrik Galanteriynaya und das Russische Museum für dekorative, angewandte und Volkskunst. Das Letztere besitzt wunderschöne Kollektionen der Textilkunst, die vielfach florale und figurative Motive zeigen. In den neuen Arbeiten verwendet die Künstlerin vermehrt diese floralen und figurativen Muster. Noch mehr als in ihren früheren Werken gehen Struktur und Zufall eine kongeniale Verbindung ein. Dies mag mit ein Grund sein, weshalb Laure Marvilles Werke nur schwer definierbar sind. Sie sind es auch, weil sie ambivalent in ihrer Materialität, in ihrem Marktwert und in ihrer permanenten Wiederverwendung sind.
Wenn dem französischen Kunstkritiker Nicolas Bourriaud (*1965) zufolge die Kunstschaffenden des stilkombinatorischen Pluralismus sich über eine Form des Wissens definieren, das Wege erfindet, um das kulturelle Spektrum zu durchqueren, so macht Laure Marville diese Wege sichtbar. Im Geiste von Bourriaud, der Ende der 1990er Jahre den Begriff «Relationale Ästhetik» (Esthétique relationnelle, Paris 1998) für eine neue Kunstströmung prägte, in der die zwischenmenschliche Begegnung ins Zentrum rückt, konzentriert sich die Künstlerin auf das Kommunikative als Intertextualität und Wechselspiel der Materialien in ihren Arbeiten. In der unübersichtlich gewordenen Welt gewinnt die erneute Frage nach dem «Wir» zunehmend an Bedeutung und die Frage nach der Identität, die dieses «Wir» konstituiert. Antworten darauf findet die Künstlerin in den Schriften des französischen Philosophen Edgar Morin (*1921), der einen Bogen von der Natur über das Menschsein bis zur Ethik und Politik spannt. Als Vordenker der Systemtheorie plädiert er für eine Reform des Denkens und damit dafür, die Komplexität aller Natur- und Lebensbereiche zu erkennen und auszuarbeiten. Mit der Entstehung von Ereignissen oder multidimensionalen, interaktiven Objekten mit zufälligen Komponenten sind wir gezwungen, eine Strategie des Denkens zu entwickeln, die nicht einfach oder totalisierend, sondern eher reflexiv ist. Morin, für den die Berücksichtigung von Heterogenität und die unterschiedliche Kausalität wichtig war, nennt diese Fähigkeit komplexes Denken (Die Methode. Die Natur der Natur, hg. von Wolfgang Hofkirchner, Wien/Berlin 2010, S. 152–154).
Diese Komplexität auch der Gesellschaft spiegelt sich in den Arbeiten von Laure Marville wider, die formal die nichtlineare Struktur des Internets und unsere assoziative Verarbeitung von Daten, Zahlen und Fakten wiedergeben. Das Unübersichtliche herrscht vor. Kompositionsfragen spielen keine grosse Rolle; vielmehr deutet die Äusserung «Ce qui est tissé ensemble» auf das Weben als visuelle Metapher des Schreibens hin. Laure Marville webt an ihrem Œuvre aus Sprache, Sentenzen, Patches, Stickereien, Gravuren und vereint die gegensätzlichsten Materialien. Die Arbeiten erfreuen, gefallen, inspirieren, irritieren, erzählen Geschichten, verkünden immer wieder Utopien in Zeiten, in denen sich das Utopische verabschiedet hat. Da spricht der Künstlerin Audre Lorde (1934–1992), eine US-Schriftstellerin und Aktivistin, deren Einfluss auf die afroamerikanischen, feministischen und queeren Bewegungen immer noch ausserordentlich lebendig ist, aus dem Herzen. An die Wand eines Raums im Fabrika Project kritzelte Laure Marville anlässlich ihrer Ausstellung handschriftlich mehrere Vorschläge und Ideen von Audre Lorde, welche sie in einem Satz zusammengefasst hatte: «She said that your silence won’t protect you, that revolution is not a one time event, that our feelings are our most genuine paths to knowledge, and that we must recognize and nurture the creative parts of each other without always understanding what will be created.» Doch das Utopische drängt bei Laure Marville nicht ins Aktivistische, sondern ist eingebunden in ein vereinheitlichtes Gewebe, das zusammen mit formalen Kombinationen und Motiven den Charakter einer Synthese aufweist. Eine Synthese, die, um mit Edgar Morin zu sprechen, «die Einzelerkenntnisse wieder zu verbinden, und die Teile mit dem Ganzen und das Ganze mit den Teilen, die Beziehung des Globalen mit dem Lokalen und des Lokalen mit dem Globalen zu begreifen sucht» (Die Methode: Die Natur der Natur).
Text: Dominique von Burg, 2018