SHIZUKO

Shizuko Yoshikawa, 08.01.1934–27.03.2019

Die Künstlerin begann ihre Laufbahn als BA-Absolventin Englischer Sprach- und Literaturwissenschaft am Tsudajuku College (heute Tsuda University) in Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg. 1958 wurde sie zum Masterstudium in Architektur und Produktdesign an der Kyôiku Universität (heute Tsukuba Universität) in Tokio zugelassen. Nachdem sie im Organisationsteam der World Design Conference (WoDeCo, 1960) in Tokio als Koordinatorin und Dolmetscherin mitgearbeitet hatte, brach sie 1961 nach Ulm auf. An der Hochschule für Gestaltung Ulm studierte sie als eine der wenigen japanischen Studierenden in der Abteilung für visuelle Kommunikation, wo sie sich unter anderem an Otl Aichers Corporate Design für die deutsche Fluglinie Lufthansa beteiligen konnte. Zu ihren Lehrern gehörten ausserdem Horst Rittel und Friedrich Vordemberge-Gildewart sowie Josef Müller-Brockmann. Als japanische Studentin fühlte sie sich in Ulm zwar teils exotisiert wahrgenommen, als Grafikerin in der hierarchischen Gestalterwelt Japans sah sie jedoch keine Zukunft. 1963 übersiedelte Yoshikawa daher nach Zürich, wo sie im Atelier ihres späteren Ehemanns, des Schweizer Gestalters Josef Müller-Brockmann, eine Stelle annahm. In Brockmanns Atelier arbeitete sie gemeinsam mit ihrer ehemaligen Ulmer Kommilitonin, Gudrun von Tevenar, als Chefdesignerin für den Pavillon Bildung, Wissenschaft, Forschung an der Schweizerischen Landesausstellung 1964 in Lausanne. Während einer parallelen Karriere als preisgekrönte Plakatgestalterin und Grafikerin in Zürich wandte sie sich nach und nach der Kunst zu, nachdem sie Müller-Brockmann 1967 geheiratet hatte. Der Auftrag eines Kunst am Bau-Projektes für die Kirchgemeinde Zürich-Höngg (1972–1974) sollte ihren Aufbruch in eine künstlerische Karriere markieren. Durch Yoshikawas Engagement in der Galerie für Konkrete Kunst galerie 58 (1965–1974)/galerie seestrasse (1974–1990), die ihr Mann bereits seit Mitte der 1960er-Jahre in seiner Heimatstadt Rapperswil (SG) betrieb, lernte sie Protagonist:innen der Zürcher Konkreten Kunst der ersten Generation wie Max Bill, Camille Graeser, Verena Loewensberg und Richard Paul Lohse kennen und schätzen. Indem Yoshikawa deren konstruktivistisch-konkrete Prinzipien mit ihrer Sensibilität für Farb- und Lichtgestaltung weiterentwickelte, eröffnete sie der sogenannten «kalten Kunst» neue, undogmatische Wege. Für ihre künstlerischen Leistungen erhielt Yoshikawa zwei Mal ein Kunststipendium des Kantons Zürich (1974, 1977) und 1992 schliesslich den Camille-Graeser-Preis.

Neben konzeptuellen Skizzen, Zeichnungen und Gouachen, die in den Jahren 1972 bis 1992 entstanden, entwickelte Yoshikawa schon früh grossformatige plastisch-umweltbezogene Kunst in Architekturstücken und Arbeiten im öffentlichen Raum. Diese verbinden starre geometrische Logik mit einem Bewusstsein für Materialien wie z. B. Beton. Yoshikawas spielerischer Ansatz berücksichtigte dabei jeweils die ephemeren, transformativen Umweltaspekte der unmittelbaren Umgebung ihrer Werke. Im Bereich der Reliefkunst entwickelte Yoshikawa zwischen 1976 und 1984 einen ihrer wichtigsten Werkkomplexe, die Farbschattenreliefs, aus Polyester- und Epoxidharz in verschiedenen Formaten. Eine erfolgreiche Ausstellung in der bekannten Minami Gallery in Tokio im Jahr 1978 trieb ihren Erfolg in Japan, der Schweiz und im Ausland mit zahlreichen Folgeausstellungen voran. Durch ihre Reliefarbeiten entdeckte Yoshikawa nicht nur eine pastellfarbene Farbskala, die für ihre frühen Werke prägend wurde, sondern fand zu ihrer konkreten Malpraxis, die sie bis wenige Jahre vor ihrem Tod kontinuierlich verfolgte. Seit den 1980er-Jahren gelang es ihr dabei, mehrere umfangreiche Gemäldeserien zu entwickeln, z. B. nach dem Prinzip modularer Einheiten, aber auch als differenzierte, mehrdimensionale Netzstrukturbilder um symmetrische Achsen oder polyphone Anordnungen von Farbquerschnitten scheinbar nah beieinander liegender Elemente im eigentümlichen Format Tondo-förmiger Leinwände. Im Lauf der Jahre wurden ihre Kompositionen immer dynamischer, wobei sie es wagte, die Regeln des Rationalismus zu brechen. Ihre konzeptuellen und intellektuellen Einsichten schlagen Brücke zwischen den Wahrnehmungs- und Darstellungstraditionen von Ost und West. Ihre Theorie und Empfindsamkeit verbindende Haltung brachte Yoshikawa eine Reihe von Einladungen als Gastdozentin ein: unter anderem im Rahmen eines IBM-Stipendiums am Aspen Institute for Humanistic Studies, an der Kyôiku Universität, Kyoto, an der State University, New York, der National University of Colombia, Bogotá, oder an der University of Arizona, Tucson. 1996 würdigte eine umfangreiche Einzelausstellung im Contemporary Sculpture Center in Tokio ihre beharrliche Praxis in verschiedenen Medien. Nach einer Phase des Rückzugs feierte Yoshikawa 2018 mit einer Ausstellung im AXIS Space Tokio ihr Comeback in Japan.

Werke in öffentlichen Sammlungen (Auswahl):
Kunstmuseum Bern; Kunstmuseum Luzern; Kunsthaus Zürich; Haus Konstruktiv Zürich; Zürcher Kantonalbank; Landeszentralbank Düsseldorf-Neurs; Museum für Konkrete Kunst Ingolstadt; Wilhelm-Hack Museum, Ludwigshafen; Staatsgalerie Stuttgart; Museum Ritter, Waldenbuch; The National Museum of Modern Art, Osaka; The National Museum of Modern Art, Tokio.


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Shizuko Yoshikawa vor der Tsuda Bibliothek (Architekt: Kenzô Tange), Tokio, 1956

Kunst Und Bau

Der Weg zur Malerei führte für Shizuko Yoshikawa über die Kunst am Bau. Wie manifestiert sich räumliches Erfahren und Empfinden im Zusammenwirken mit Architektur? Dieser Frage ging die Künstlerin in Auftragsarbeiten oder im Rahmen idealtypischer Experimentalprojekte mit befreundeten Architekten nach. Räumliches Erfahren verstand sie dabei als Folge der Konkretion von abstrakt-mathematischen Verhältnissen basierend auf wahrnehmungspsychologischen Grundlagen. Insbesondere der Einbezug von Licht, Schatten, Wasser oder Pflanzen als Umweltfaktoren und zeitliche Indikatoren weist auf den von Yoshikawa später parallel in der Malerei angestrebten Zusammenklang vielfältiger, teils widersprüchlicher Elemente hin. Während ihrer gesamten Karriere bewarb sie sich für Kunst am Bau Projekte. Realisiert wurden u. a. Zürich-Höngg, Katholisches Gemeindezentrum, vier mögliche progressionen, 1972–1973, Wandrelief; Zürich, Universität Irchel, Farbschatten Nr. 108, 1980, Polyesterrelief; Zürich, Städtisches Krankenheim Witikon, wasser-relief-landschaft, 1981–1983; Zürich, Universitätsspital, Augen- und Ohrenklinik, fliessende farbräume, 1988–1992, Raumgestaltung; Zürich, Klinik Schulthess, Eingangshalle, yin-yang-kegel, 1992–1995; Yokohama, Internation Stadium, Farbschatten Nr. 190, 1997.

Die Arbeiten vier mögliche progressionen (Aussenwand und Innenhof) und negativ und positiv (Eingangstreppe zur Kirche) basieren auf vier quadratischen oder annähernd quadratischen Wandrelieffeldern, die entlang diagonaler Achsen strukturiert sind. Mit mathematisch-minimalen Mitteln erzielt Yoshikawa durch die ab- und aufsteigende Masse einer festen Grundeinheit maximale Wahrnehmungswirkung. Die Grundeinheit ist hier insofern standardisiert und logische Konsequenz des Bauens, als sie sich aus den für den Betonkirchenbau verwendeten Holzschalungselementen ableitet. Die Grundeinheiten, die man als dreieckig zulaufend oder quadratisch aufgeteilt wahrnimmt, reihen sich in jeweils auf- oder absteigender Folge in einer zur regelmässigen Aufteilung der Fläche benötigten, entsprechend erweiterten oder verkürzten Form aneinander. Die Gestaltwahrnehmung vervielfacht sich. Neben Rotationsfiguren drängt sich die rohe Materialität des Betons mit seiner durch das Holz strukturierten Maserung auf. Das auf die konsequent transformierten Flächen auftreffende Licht hebt das Relief nicht nur grafisch verstärkend ab, sondern wirft Schatten auf Boden und Wand. So sorgen Relief und Tageslicht bei dem scheinbar statischen Werk in der Schattenprojektion für eine Folge von ephemer-konstanten Figuren. Yoshikawas Auftragsarbeit stiess in der zeitgenössischen Zürcher Tagespresse auf positive Resonanz. Noch sechs Jahre später galt das Relief Willy Rotzler als ein gelungenes Beispiel einer materialgerechten Plastik, denn «die gültigsten Lösungen […] wurden gefunden, wo der Wille bestand, in disziplinierter Beschränkung […] auch das Material und seine Technologie sprechen zu lassen.»
Auch bei der umstrittenen Platzgestaltung der heute nicht mehr vorhandenen wasser-relief-landschaft (1981–1983) beim städtischen Krankenheim Witikon in Zürich arbeitete sie mit Beton, der zum Relief gefügt war. Rund zehn Jahre nach ihrer ersten geglückten Umsetzung nahm ihr grossmassstäbliches Relief diesmal den Boden im Aussenbereich eines Pflegeheimcafés ein. In Zusammenarbeit mit dem Zürcher Architekten Frank Krayenbühl legte Yoshikawa der Bodengestaltung, die aus 1400 gleichförmig längsrechteckigen, industriell hergestellten Betonplatten aufgebaut ist, eine Trapezform sowie eine erhöhte Sockelzone zugrunde. Darauf schichtete sie die Grundeinheit der Betonplatte, und dies über drei, wechselseitig zueinander gestellte, gleichschenklige Dreieckszonen hinweg verteilt. Den drei daraus hervorgehenden terrassierten Hügeln oder Inseln wohnten künstliche Wasserquellen inne. Dabei schwebte Yoshikawa einerseits vor, dass das Wasser von den Inselspitzen ruhig über die rechteckigen Platten auf die ihre Umwelt gebrochen spiegelnde Teichoberfläche rinnt. Andererseits bezog die Künstlerin einmal mehr die Veränderung über die Zeit als integralen Bestandteil ihrer Arbeit ein. Nach und nach auf der Betonunterlage ansetzende Algen und Moose sollten im Idealfall durch ihr wucherndes Eigenleben innerhalb des Wasserspiels menschliche Gestaltung ebenso ergänzen wie verfremden: «Das Moos wird die strenge geometrische Form der Relieflandschaft organisch einkleiden. Es muss als Schönheitsfaktor betrachtet und entsprechend gepflegt werden.» In diesem Fall stellte sich die von Yoshikawa in die Planung miteinbezogene Komponente aber tatsächlich als unberechenbar heraus. Entgegen Yoshikawas Intention wurde die Relieflandschaft regelmässig vom Moos befreit. Deshalb liess sich der springende Punkt im aufgeworfenen Spannungsverhältnis zweier überlagerter Strukturen nicht weiter konkretisieren. Im Rückblick tritt in der Wahrnehmung und Wertschätzung von Moos als integralem Bestandteil und ästhetischer Komponente höchstens das Spannungsverhältnis unterschiedlicher Kulturen zutage.

Das für den öffentlichen Auftraggeber Stadt Zürich in Witikon realisierte Wasser-Landschafts-Relief muss insbesondere in Zusammenhang mit Yoshikawas früheren Projektvorschlägen im Rahmen der VI. Biennale d’Arte Contemporanea San Martino di Lupari, Padua, 1981 gedacht werden. Unter dem damaligen Ausstellungsmotto «Arte e architettura, poli di ricerca geometrica» [Kunst und Architektur, Pole der geometrischen Forschung] präsentierte die Künstlerin gleich zwei Gemeinschaftsprojekte: Zum einen Modell und Pläne einer als Gesamtkunstwerk angelegten Wohnhaus- und Gartensituation in Zusammenarbeit mit dem in Zürich tätigen Architekten und Alvar Aalto-Schüler, Karl Fleig. Zum anderen den Vorschlag eines teilüberdachten öffentlichen Schwimmbassins als Farbfotocollage auf Schwarz- Weiss-Fotopapier in Zusammenarbeit mit dem Tokioter Architekten Yuzuru Tominaga. Zur Eingabe ihres Vorschlags für ein Einfamilienhaus mit Garten über mehrfach ineinander geschobenen, quadratischen Grundflächen und Gitterstruktur hielt sie 1981 fest: «Gerade jetzt, […] wo die Zivilisation und unser Lebensraum mehr und mehr technokratisch wird, ist es wichtig, dass die Kunst eine neue Bedeutung bekommt und einen entscheidenden Gehalt für den menschlichen Geist zur Verfügung stellt. Um erfolgreich zu sein, muss ein solch soziales und kulturelles Projekt […] gemeinschaftlich und in Zusammenarbeit gesucht und definiert werden.»

SY, vier mögliche progressionen, Beton-Wandrelief, Heilig-Geist Kirche Höngg, Zürich, 1972
SY, wasser–relief–landschaft, Platzgestaltung Krankenheim Witikon, 1981–1983, [zerstört]
SY und Yuzuru Tominaga, Synthese: Kunst und Architektur, Fotocollage, 1981

Gebrauchsgrafik | Angewandte Kunst

Als Absolventin des Studiengangs Visuelle Kommunikation an der HfG Ulm war Yoshikawa ab 1963 im Büro ihres späteren Ehemanns Josef Müller-Brockmann tätig. Als selbstständige Grafikerin erarbeitete sie sich zwischen 1968 und 1978 aber nicht nur einen eigenen, illustren Kundenstamm, sondern heimste auch Auszeichnungen für ihre Plakatgestaltung ein, so etwa für Nô-Theater (Schweizer Plakate des Jahres 1975). Dabei zeichnete sich neben Yoshikawas Affinität für kulturelle Institutionen als Auftraggeber auch ihre Vorliebe für Themen aus dem japanischen Kulturkreis ab. Deren Ästhetik kombinierte sie mit akkurater schweizerischer Plakatgestaltung. Die angewandte Kunst führte Yoshikawa mit einem der weltweit erfolgreichsten Grafiker, ihrem früheren Mentor Müller-Brockmann, in einer Lebensgemeinschaft wie auch auf ästhetischer Ebene zusammen. Das belegen unter anderem die Plakatentwürfe für gemeinsame Ausstellungen. Obwohl sich Yoshikawa seit den 1980er-Jahren fast ausschliesslich der Bildenden Kunst im Rahmen der Malerei widmete, datiert einer ihrer letzten Plakatentwürfe für eine Ausstellung von kunsthandwerklich in Tiergestalt gearbeiteten netsuke im Zürcher Museum Rietberg noch ins Jahr 1987.

Arbeiten auf Papier

Parallel zum sich über Reliefarbeiten entwickelnden Malereikorpus arbeitete Yoshikawa mit Gouachen und Bleistift auf Papier. Ihre Kompositionen spiegeln hier oft den Untersuchungsprozess ihrer Malerei, stellen darin aber trotzdem einen eigenständigen Zweig ästhetischen Zweig dar. Yoshikawas Arbeiten auf Papier sind konsequent durchnumeriert, entbehren aber Werkgruppen-Titeln, wie sie die Künstlerin für ihre Malerei-Serien setzte.
Zu den Zeichnungen gesellt sich ausserdem eine Reihe von druckgrafischen Arbeiten, die entweder Motive der Gouachen oder der Malerei wiedergeben. Trotzdem treten einige Blätter aus dem rund 100 Editionen umfassenden Korpus hervor. Die Figur von insgesamt vier gegeneinander gerichteten Gitterkuben, die Yoshikawa als Beilage zu Ilma Rakusas kleinem Band «Leben» gestaltet hat, besteht aus weissen und schwarzen Linien auf braunem Papier. Mit der Slawistin und Autorin war die Künstlerin freundschaftlich verbunden. Trotz des Titels d52 innen und aussen (undatiert) erinnert Yoshikawas Siebdruckedition mit einer Auflage von 25 Blättern stark an die formalen und ästhetischen Prinzipien der eingangs erwähnten Kunst und Bau-Arbeit wandrelief: nicht zweiheit (1987–1988) in Granit und Marmor für den Haupteingang der Landeszentralbank in Neuss bei Düsseldorf. Dort scheinen sich allerdings Gruppen von vier und sechs stereometrischen Gitterkuben an einer Wand ineinander zu verzahnen, um dabei eine Vielzahl neuer Abschnitte, Formen und Räumlichkeiten über die Wandfläche zu projizieren.

SY, z431 kosmische gewebe – entflechtend 9, 1992, Gouache und Bleistift auf Papier, 96,8 x 65,5 cm

Reliefs | Malerei

Farbschattenreliefs

Ab 1974 fand Yoshikawa in kleinmassstäblicheren Reliefs ein Format, um eine Folge von Zuständen über mögliche Abhängigkeiten in visuell veränderlichen Farblichtmosaiken zu materialisieren. Bei den zwischen 1974 und 1976 geschaffenen Reliefserien mittleren Formats mit den Titeln sequenzen, progression II und transformation von vier gleichen farbflächen handelte es sich noch um durchgehend unterschiedlich mit Acryl gefärbte topologische Zellstrukturen aus Holz und Plexiglas, die Yoshikawa anfertigen liess. Die dreidimensionale Untersuchung der Farb-Form-Wirkung projizierte sie parallel mit der Siebdrucktechnik auch in die Fläche, wovon die gleichnamige grafische Serie und das Blatt metamorphose (1974–1976) zeugen. In der Technik Acryl auf Leinwand setzt sie zur selben Zeit auch erstmals malerisch t1–t6 transformation von vier gleichgrossen farbflächen I–V um. Diese in sich geschlossen wirkenden und über verschiedene künstlerische Medien miteinander verschränkten Arbeiten fallen insbesondere durch ihre Farbigkeit auf. In Türkisblau und Ockergrün, in Rosa, Orange, Grün und Violett. erprobte Yoshikawa hier eine eigentümliche, bisweilen sperrig wirkende Skala abschattierter Farben. Nach zwei Jahren, in denen sie ihre Arbeiten erstmals in der Rapperswiler galerie seestrasse (1974) und in der Music Hall des Osaka Art Center (1975) ausstellte fand sie ihr für die folgenden Jahre massgebliches Kerninteresse durch die Lektüre von Eckart Heimendahls physikalischer Studie «Licht und Farbe» aus dem Jahr 1961.

Yoshikawas Farbschattenreliefs, die sich aus diesem intensiven Studium ableiten, basieren auf folgenden Prinzipien: Jeweils gegenüberliegende Seitenflächen eines aus der Ebene hervortretenden Reliefquadrates werden mit weiss aufgehellten Pigmenten unterschiedlich komplementär-kontrastierend bemalt. Die Deckflächen der als Gittermuster hervortretenden Minikuben sind dabei weiss belassen, seitlich einfallendes Licht macht sich darauf jedoch als irisierende Farbreflexion und Muster bemerkbar. Einmal mehr erzielt die Künstlerin mit scheinbar minimalem Aufwand maximale Leuchtkraft und mehrdeutige Gestaltwahrnehmung. Zugleich betont Yoshikawa, wie aufwendig das exakte Bemalen der Seitenflächen und das Bestimmen der exakten Komplementärkontraste in Lack und Acryl auf den auswärts angefertigten Polyester- beziehungsweise Epoxidharzmodellen waren.

Die übergeordnete, als Lichtgittermuster zu erkennende Bildreliefgestalt entwickelte sich über unterschiedlichen «Typen». Dabei handelt es sich um Anordnungen von 2×2, 2×3 und 3×3 Elementen von je 5×5 Zentimetern. Diese Elemente sind jeweils um 5 Millimeter voneinander höhenversetzte, vorfabrizierte Polyesterteile. Mit den «Typen» spielte Yoshikawa in ihren Reliefbildkonzeptionen, indem sie diese drehte, gedreht spiegelte oder in eine konstante Bewegung übertrug, um daraus topologisch-kristalline Flächen zu bilden. Dazu bemerkt sie selbst: «In der Folge stehen sich zwei komplementäre Farbpaare um die Diagonal-Achse in der chromatischen Kreisordnung gegenüber, und ebenso kreuzen sich die zwei nebeneinanderstehenden Farben auf einer topologischen Fläche.» Daraus leitete die Künstlerin eine autonome Gesetzmässigkeit der Farborganisation im Licht- und Farbraum für sich ab.

SY, r41 transformation von vier gleichen farbflächen – 3, [Serie von drei Reliefs], 1976, Acryl auf Holz, 100 x 100 cm
Einladungskarte zur Einzelausstellung «shizuko yoshikawa. farbschatten, ein prozess: konzept – entwicklungen – realisationen», Kunsthaus Zürich, 1980

Netzstrukturbilder

Zwischen 1976 und 1986 entstanden parallel zu den Farbschattenreliefs Gitterprojektionen, auch «Netzstrukturbilder» genannt – zunächst in Tempera und Acryl auf Papier, dann in Acryl auf Leinwand: «Die Synthese von immaterieller und materieller Farbe, die ich im Relief darzustellen versuchte, bedeutet für mich in der malerischen Arbeit eine neue autonome Aufgabe», notierte Yoshikawa ihre Malerei betreffend. Anhand einer immer breiter nuancierten Pastellpalette applizieren ihre Gitterwerke in Komplementärkontrasten meist entlang diagonaler (Spiegel-)Achsen nicht nur Struktur auf die Fläche (m1–m200). Dank serieller Variationen innerhalb des Farbkreises transformierte die Künstlerin die statische Leinwand zu einer elementar strukturierten, scheinbar beweglichen Ebene, wobei in der optischen Mischung von harmonischen Farbübergängen und Zwischenräumen eine vibrierende topologische Fläche entstand. Analog zu ihren Reliefs spielte Yoshikawa die Kombination von «Typen» dabei in ähnlichen Grundmustern durch. Dabei schoss sie sich im Rahmen der Malerei zunächst ausschliesslich auf quadratische Leinwandformate mittlerer Grösse ein.
Ein Drehmoment gab sie ihrer Malerei hier unter anderem, indem sie ihre Leinwände über Eck in die parallel verlaufenden Wandbegrenzungen des gebauten Atelier-, Um- oder Ausstellungsraumes einfügte, um ihnen damit ein neues Format zuzuweisen. In Arbeiten, welche die Tautologie von quadratischem Grund-element und quadratischer Leinwand nicht nur durch paradoxe Farbwirkungen innerhalb des durchgängigen quadratischen Formprinzips unterlaufen, verschränkte Yoshikawa gedrehte Spiegelung, Translation und Transformation in längs- und seltener noch hoch- rechteckigen Formaten. Die Dimension der Leinwände spielte eine zunehmend wichtige Rolle. Später passte sie die Werkmasse vielfach auch ortsspezifisch an – wobei sich die Künstlerin als eine an Umweltbedingungen geschulte, gleichsam auf sie einwirkende Gestalterin der 1960er-Jahre zu erkennen gibt.

SY, m42 farbschatten/ 3 x 3 Kombination typ e43.2, 1977–1982, Acryl auf Leinwand, 76 x 76 cm

Hommage aux Upanisad

Ab 1989 fand Yoshikawa nach dem Erproben verschiedener Methoden in der philosophisch getragenen Reihe hommage aux upanisad 1–32 (1989–1990) die geeignete Formel, um sich weiter vom Grid zu lösen und dem universellen Gedanken des Netzes, der all ihre Arbeiten strukturiert, auf andere Art noch näher zu kommen. Hier überlagerte sie das Weiss des leeren Bildgrundes, der als integratives Element ihrer Kunst so wichtig ist, oft mit einer durchgängigen lasierenden Grundierung. Durch dieses Schichtungsverfahren setzte sie nicht nur die Einzelelemente untereinander in Beziehung, sondern stellte auch verschiedene, räumlich wirkende Bildebenen als Lasurschichten in Abhängigkeit zueinander. Die darin wiederum mehrfach gedrehten Einzelelemente bilden Figuren, die aus dem früher durchgängigen Gitter herausgelöst scheinen. Hier fügen sich die Einzelelemente ebenso zu rhythmischen Agglomerationen wie zu repetitiven Intervallen und eröffnen dabei über die Ebenen hinweg wechselseitige Echokammern. Mit den «Upanisad», oder auch «Upanischaden» geschrieben, spielte Yoshikawa auf eine Sammlung philosophischer Schriften aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. an, welche die Grundhaltungen des Hinduismus ausformulieren. Yoshikawas Hommage galt somit zwar einem östlichen, allerdings nicht etwa buddhistischen oder japanisch-essentialistischen Schriftkorpus. Wörtlich lässt sich die Bezeichnung der hinduistischen Schriften mit «Sich-in-der-Nähe-Niedersetzen» übersetzen. Damit kann auch eine geheime, belehrende Sitzung zu Füssen eines Lehrers gemeint sein. Nun liegt die Krux des aus vielen Fragmenten zusammengesetzten Textes aber darin, dass er zur Introspektion auffordert. Nur wer sich selbst kennenlerne, werde zu dem, womit er sich identifiziere, weil die eigenen Gedanken und Handlungen das persönliche Karma bestimmten.

SY, m292 hommage aux upanisad – 19, 1989, Tempera und Acryl auf Leinwand, 146 x 75 cm

Zwei Energien und Kosmische Gewebe

Im künstlerischen Schaffen Yoshikawas waren die frühen 1990er-Jahre durch die Realisierung von vier parallelen, seriellen Untersuchungen geprägt. Zunächst handelte es sich dabei um die Gruppen zwei energien 1–38b (1990–1991) beziehungsweise zwei energien – diagonal 1–35B (1990–1992) und energien aus der leere 1–64 (1990–1994). Bei der erstgenannten Gruppe kehrte sie zurück zur quadratischen Leinwand, wobei sie zwei energien 1–23 je nachdem als klein-, mittel- oder grossformatige (100 ×100 cm) Variationen über ein Thema entwickelte. Die Serie nimmt die Elemente der Werkserien aus den späten 1980er-Jahren wieder auf, kombiniert sie nun aber mit inzwischen neu ausgeloteten Prinzipien. In diesen ungegenständlichen Bildfeldern liegt Yoshikawas Forschungsinteresse quasi auf der nach aussen strebenden und der im Zentrum des Bildfeldes sich sammelnden Energie. In der simplen Beobachtung klingen die Prinzipien von Vordemberge-Gildewarts Malerei an. Als ob «eingezoomt» vergrösserte Yoshikawa scheinbar Ausschnitte aus früheren Serien. Damit erzeugte sie eine Sogwirkung zum Quadrat in der Mitte hin, wobei sich dessen Zentrum formiert und zeitgleich zerfällt. Um die Vielschichtigkeit weiter zu steigern, verwendete sie dabei Tempera und Acryl auf Leinwand. Auch wenn Yoshikawa diese im Unterschied zu ihren anderen Referenzen nie selbst erwähnte, erinnert der Bildaufbau hier auch vor dem Hintergrund von Yoshikawas früheren Gitterwerk-Bildern unwillkürlich an Mandalas des esoterischen Buddhismus der japanischen Shingon-Schule. Die in sich quadratisch strukturierten Mandalas symbolisieren dort das Universum, in welchem alle Lebewesen harmonisch miteinander vereint sind. Dieser Vergleich bringt die Charakteristika von zwei energien 1–23 gerade in den Unterschieden umso besser zum Tragen. In dieser Werkphase sucht Yoshikawa im Duktus der auf die Leinwand aufgebrachten Farbe einen prekären Zustand zu vergegenwärtigen: das ephemere Moment, in dem sich zwei aufeinanderprallende Energien die Waage halten, bevor die eine oder die andere Überhand gewinnt und damit das spannungsvolle Gleichgewicht zum Kippen bringt. Mit den über Eck gestellten quadratischen Leinwänden der parallel entstandenen zweiten, 35-teiligen energien-Serie kommt die Frage nach Vorbildern auf. Die leere Bildmitte betreffend wäre hier etwa an Yoshikawas prominente Vorreiterin im Bereich der Konkreten Kunst, Verena Loewensberg, zu denken.

Als vierte, teilweise parallel realisierte Serie begann Yoshikawa 1991 kosmische gewebe. Das Thema des «kosmischen Gewebes» blieb allerdings über einen längeren Zeitraum von rund zehn Jahren für Yoshikawa aktuell. Dabei ging sie es jedoch in einzelnen Werkabschnitten jeweils anders an. Innerhalb des seriellen Rahmens untersuchte sie verschiedenartige Phänomene oder lotete unterschiedliche Ausprägungen desselben Phänomens aus. Von 1990 bis 1992 beschäftigte sie sich weiterhin mit dem Quadrat als Ausgangsfläche. Das Quadrat steht nun aber nicht mehr auf der Spitze des rechten Winkels, sondern auf einer Seitenfläche. So als ob wir sukzessive aus dem Bild herauszoomen würden, formieren sich dimensional abnehmende, verschieden-farbig zusammengesetzte, angeschnittene Kreuzchen mit unterschiedlichen Armlängen so im Randbereich des Bildes, dass sie durch Ausrichtung und Farbverteilung in der Mitte keine Quadratform mehr umreissen, sondern ein an den Rändern «verpixelt» wirkendes Rund aufscheinen lassen.

Später kehrte Yoshikawa diese Bildwirkung um. Als Ausnahmeerscheinung, jedoch absolut folgerichtig resultierte daraus eine Beschäftigung mit einem für sie völlig neuen Bildformat: dem Tondo. In diesem fand die Künstlerin eine Grundform, die in ihrem Œuvre einmal mehr das Spannungsfeld verschiedener Kulturkreise anklingen lässt. Bleiben wir aber vorerst bei der konstruktiv-konkreten Tradition dieser Urform. Der Tondo begegnet uns auch in den Arbeiten von Fritz Glarner (1899–1972), allerdings als ein anders eingesetzter Bildträger beziehungsweise als ein gänzlich anderes Bildthema. Abgesehen davon, dass Yoshikawa nie die Primärfarben oder auch Grau, Schwarz und Weiss einsetzte, interessierte sie sich im Format des Tondo nicht vorrangig für die Relation der Farbgewichte. In diesem Werkabschnitt ging es Yoshikawa vielmehr um «strahlenden» Zusammenklang. Durch eine rhythmische Verteilung von Kreuzformen in der Fläche über mehrere Ebenen und dank der Spannung zwischen orthogonal-eckigem und kreissegment-rundem Elementarprinzip tritt das Kosmische in diesem Gewebe wie ein zur Melodie auseinandergezogener Akkord hervor.

SY, m327 zwei energien – 21, 1990, Tempera und Acryl auf Leinwand, 100 x 100 cm
SY, m454 kosmische gewebe – fliessend 7, 1992–1995, Tempera und Acryl auf Leinwand, Tondo, Durchmesser: 130 cm

A Roma

Die Serie a roma markiert eine Zäsur und einen Wendepunkt in Yoshikawas Leben und Arbeiten. Nie zuvor wich sie so weit vom klassischen Vokabular der Konkreten Kunst ab. Die Pastellkreidezeichnungen und Gouachen auf teils farbigem Büttenpapier aus den Jahren 1997 bis 1999 spiegeln die mediterrane Umwelt Yoshikawas während wiederkehrender Atelieraufenthalte im Istituto Svizzero di Roma. Yoshikawas thematische Auseinandersetzung mit der sinkenden Sonne und ineinandergeschobenen oder auseinanderdriftenden Kreuzpaaren nimmt von Jahr zu Jahr ausgewogenere, leichtere Formen an. Yoshikawa wählte die Sonne als Ausgangspunkt dieser thematischen Reihe und brach bewusst mit der nicht-figurativen Orientierung Konkreter Kunst. Die grob schraffierten oder farbig gewölkten, mit Kreide bearbeiteten Bildhintergründe weisen dabei eine Textur auf, die Yoshikawas malerischen und zeichnerischen Arbeiten bisher fremd war. In Rom verarbeitet die Künstlerin den Tod ihres Ehemannes Josef Müller-Brockmann (1996). In diesem zyklischen Ablösungsprozess blickt sie zurück auf ihre Wurzeln in Japan und voraus auf mögliche neue Ansätze für ihre künstlerische Arbeit.

SY, ohne nummer – entleeren und aufladen, 1997, Ölkreide auf Büttenpapier, 48,4 x 65,3 cm
SY, z659 a roma – 23, 1999, Ölkreide und Gouache auf geprägtem Büttenpapier, 48 x 66 cm

My Silkroad

Das Thema des Wanderns spielte sie ab 1998 und wiederum für die eindrückliche Dauer eines Jahrzehnts als neuen Hauptuntersuchungsgegenstand ihres Schaffens durch. Die Reihe my silkroad (1998–2011) schuldet den Erfahrungen der Künstlerin mit kosmische gewebe, mit dem Sonnen- und Mondlicht am römischen Winterhimmel im Rahmen von a roma viel. Gleichzeitig ist der evokative Titel wie damals die hommage aux upanisad auch eine bewusst ausformulierte, poetische Referenz an den fernen Osten. Über die Seidenstrasse, ein altes Netz von Karawanenstrassen, dessen Hauptroute das Mittelmeer auf dem Landweg über Zentral- mit Ostasien verband, gelangten nicht nur Seide und Handelsgüter sowie Kaufleute von Ost nach West und umgekehrt, sondern auch Armeen und Gelehrte. Yoshikawa machte die Seidenstrasse zu ihrem Weg zurück Richtung Japan. Während sie schon in früheren Jahren auch den mittleren Osten bereist, den Nachthimmel über der Wüste bestaunt oder auf dem Weg nach Ulm den Suezkanal durchschifft hatte, so trat sie nun geistig den «Rückweg» zu Land und zu Wasser an.
Die zunächst hoch- und grossformatigen längsrechteckigen Leinwände weisen intensive Bildgrundfarben auf, deren Lumineszenz sich aus vielfach übereinandergelegten, homogenisierten Schichten speist. Gleichzeitig transportieren die so erzielten Töne wie Türkis und Samarkand, ohne dabei darstellend oder abstrahiert zu wirken, atmosphärische Stimmungen, ähnlich wie Gewürze. Sie vermitteln assoziative Erinnerungen oder Projektionen der Topografie sowie der Erd-, Feuer-, Wasser- und Lufttöne einer Reise durch den mittleren Osten bis nach Pakistan, China und die Mongolei. Ab 2004 tauchte die wiederkehrende Anhäufung von Kreuzchen auf mittelgrossen querrechteckigen Formaten in kreisförmig geballter Anordnung vor kobalt- und türkisblauen Nachthimmelansichten auf. Ab 2006 präsentierte Yoshikawa kometenschwarmartig dicht übereinander und nebeneinander gesetzte Kreuzkombinationen vor einem intensiv rotorange leuchtenden Bildgrund. Fast scheint es, als habe sie China nun erreicht. 2007–2008 «sticht» sie mit my silkroad on ocean 1–8 «in See». Kurz vor der «Ankunft in Japan» scheinen in dieser Serie völlig neue Lichtaspekte über weissem Grund in horizontal stärker betonten Einzel- und Kreuzbalken auf. Bemerkenswert ist dabei ausserdem die Verwendung von aufgehelltem Rot, Blau und Gelb – eine Kombination, die Yoshikawa in der direkten Gegenüberstellung früher zumeist gemieden, gebrochen beziehungsweise abschattiert hatte. Unwillkürlich finden wir uns auch an die Lichtreflexion auf einer gewellt-bewegten Wasseroberfläche auf dem Ozeanabschnitt ihrer Reise über die Seidenstrasse erinnert und daran, wie sich Wellenmuster auf glatten Wasserspiegeln durch Zeit und Raum fortsetzen.

SY, m736 my silk road 116, 2010-2011, Tempera und Acryl auf Leinwand, 67 × 198 cm
SY, m764 my silk road – 117, 2010-2011, Tempera und Acryl auf Leinwand, 198 x 67 cm

Spätwerk

Mit puls 1–13 (2008–2011) und lebenspuls (2011/2012–2013) kehrte Yoshikawa nach dem Zurücklegen ihrer eigenen «Seidenstrasse» die Bildverhältnisse wieder einmal völlig um: War das aus horizontal und vertikal zueinander positionierten kleinen Farbbalken zusammengesetzte Kreuz spätestens seit den kosmischen geweben ein bestimmendes Motiv ihrer Kunst gewesen, so scheint es nun, als hätten sich all die ausgesparten Farbpunkte und kleinen Quadrate, die sie jeweils zwischen den einander gegenüber gestellten Balken frei liess, neu organisiert, um als Farbsprengsel die Bildflächen zu erobern. Kreis und Quadrat werden so in miniaturisierter Form zunächst auf kleineren quadratischen, dann auf grösseren rechteckigen beziehungsweise über Eck gestellten Leinwänden rhythmisch verteilt. Sie, die man pulsierend, dann gruppierend und beiordnend, flockig und beschwingt wahrnimmt, lassen jede mathematische Formel oder geometrische Konstruktion vergessen. Dennoch sind sie konstruiert. Regelmässig wie unregelmässig verteilt, bespielen sie bläulich und gräulich gefärbte Bildträger. Gegen Abschluss der Serie lebenspuls 1–28 (2011/2012–2013) führte Yoshikawa auf über Eck gestellten quadratischen Leinwandflächen, die nun mit einer Seitenlänge von teilweise über 1,5 Metern enorm angewachsen waren, eine horizontale Teilung in ein weisses und ein graues Dreieck ein. Über diesen Bildäquator platzierte sie rhythmische Farbreihen von kleinen, unzerteilten, ebenfalls über Eck gestellten Quadraten. Die dreistufig linear gesetzten Notationen bestehen aus Einheiten von jeweils fünf gleichen beziehungsweise von Bildebene zu Bildebene in der Reihenfolge variierten Farbquadraten in Gelb, Rot, Blau und Grün. In weiteren Variationen erprobt sie diese musikalisch wirkende Bildaufteilung auch vertikal und mit Kreisformen.

Die vorher wie «entlaufen» wirkenden «Bildpixel» werden nun in Form von verstreuten Punkten über einer einheitlichen Fläche wieder gesammelt und vergrössert. Sie wachsen zu kleineren und mittel-grossen bunten Kreisen an. Je nach Farbverteilung und Ausrichtung erzeugte Yoshikawa durch eine radikal vereinfachte Anordnung der Elemente ein Drehmoment. Während es früher Quadrate, rechte oder spitze Winkel waren, so fand die Künstlerin nun durch ihr Experimentieren zur Kombination von zwei gleichförmigen, jeweils andersfarbigen Dreiecken, die sich über einer horizontalen Mittelachse gegenseitig zum diagonalen Quadrat ergänzen. Vom weissen drehenden Bildgrund zu bunten, zur Bildmitte hin anschwellenden Kreisen auf gelbem oder violettem Grund ist es ein kleiner Schritt, der aber auch im Titel drehen zu zweit (2015–2016) eine Verbundenheit in der Art von Yin und Yang anklingen lässt. Schon 1993 hatte Yoshikawa zu ihren Bildern geschrieben: «In der chinesischen Naturphilosophie sind ‹Yin und Yang› […] keine gegensätzlichen Pole, sondern bedeuten einen Zyklus und eine ergänzende Ganzheit, in denen die Zeit und der Raum zusammenwirken.»
Im Frühjahr 2017 bemerkte Shizuko Yoshikawa in der ihr eigenen überlegten Klarheit, dass sie diese ergänzende Ganzheit, die sie immer verfolgte, für sich erreicht hatte. Aus der Malerei zog sie sich in die ruhende Kontemplation zurück – jedoch nicht ohne ihren akribischen Untersuchungen von Farbe und Form einen prägnanten Schlusspunkt zu setzen. Einmal mehr wirkt ihre Bildschöpfung in ihrer formalen und reduzierten Konsequenz ebenso überraschend wie logisch: m843 ohne titel (2016/2017) ist ein über Eck gestelltes Quadrat von stattlichem Format. Auf dem weissen Grund ist eine kreisförmig angeordnete Reihe von im Uhrzeigersinn abnehmenden schwarzen Kreisen zu sehen. In dieser persönlichen Abwandlung der Yin-und-Yang-Symbolik lassen sich Zu- und Abnahme lesen, aber auch die Vollkommenheit der elementaren Kreisform.

Shizuko Yoshikawa starb am 27. März 2019.

(GS)

SY, m777 puls 13, 2011, Tempera und Acryl auf Leinwand, 125 x 125 cm